Ausstellungseröffnung in der Galerie Crystal Ball und der Galerie Dörrie Priess am 25. September um 19 Uhr
26. 9. – 6. 11. 2009
Séance Vocibus Avium (I)
Der einzige, in Europa ursprünglich heimische, vollständig ausgerottete Vogel ist der nordatlantische Riesenalk (Alca impennis). Sein letztes Vorkommen befindet sich vor der südisländischen Küste auf der Felseninsel Eldey. Am 3. Juni 1844 werden dort die letzten beiden Vögel, ein brütendes Paar, von den Fischern Jón Brandsson, Sigurður Ísleifsson und Ketill Ketillson aus Hafnir durch Genickumdrehen getötet, um ihre Bälge mitsamt Innereien einem dänischen Vogelsammler zu verkaufen. Damit verstummt der Gesang dieses Vogels für immer.
Nach seiner ersten Islandreise im Jahr 1990 formt Wolfgang Müller einen Riesenalk aus Modelliermasse, Stoff, Papier, Farben und Hühnerfedern. Zum 160. Jubiläum seiner Ausrottung rekonstruiert er 1994 die Lautäußerungen des Vogels im Hörspielstudio des isländischen Rundfunks stöð 2. Sein Medium ist dabei die isländische Schauspielerin Kristbjörg Kjeld. Mit Hilfe moderner Studiotechnik werden die Rufe des Vogels rekonstruiert und somit erstmals seit seinem Aussterben 1844 wieder hörbar gemacht. Als Grundlage der Rekonstruktion dienen historische wissenschaftliche Beschreibungen, wie die von Dr. Alfred Newton aus Cambridge. Er befragt 1854 die Seeleute aus Hafnir nach den letzten Minuten im Leben der letzten Riesenalken und veröffentlicht ihre detaillierten Aussagen 1858 in der ornithologischen Fachzeitschrift „Ibis“.
Andere, meist durch direkte oder indirekte Einwirkung des Menschen ausgerottete Vogelarten stammen vor allem aus Nord- und Mittelamerika, Madagaskar, Australien, Neuseeland und den Inseln des Pazifischen Ozeans. Seit dem 16. Jahrhundert sind schätzungsweise hundertundfünfzig Vogelarten ausgestorben. Von nur sehr wenigen dieser existieren Beschreibungen ihrer Lautäußerungen.
Dazu zählen neben dem Riesenalken zehn weitere Vogelarten, deren Rufe nun gleichzeitig in der Galerie Dörrie * Priess und der Galerie Crystal Ball zu hören sind. Wolfgang Müller übermittelte dafür zehn bekannten Musikern wissenschaftliche Beschreibungen einer ausgewählten Spezies und bat die jeweiligen Beteiligten, ihren/seinen Körper zu verlassen und in den ihr/ihm zugeteilten Vogelkörper zu schlüpfen. Im Moment der Vogelwerdung verschwinden Musik und Musiker. Es erklingen die Rufe längst verstummter Vögel.
- Coturnix Novae-Zelandiae, Neuseeländische Schwarzbrustwachtel, † 1875. (Namosh)
- Hawaii-Krausschwanz, Moho Nobilis, † 1934. (Max Müller)
- Assumption-Weißkehlralle, Dryolimnas Cuvieri Abbiotti, Unbekannt. (Frieder Butzmann)
- Jamaika Teufelssturmvogel, Pterodroma Hasitata Caribbaea, Unbekannt. (Justus Köhnke)
- Mauritiusfruchttaube, Alectroenas Nitidissima, † 1930. (Annette Humpe)
- Präriehuhn, Tympanuchus Cupidio Cupido, † 1932. (Francoise Cactus/Brezel Göring)
- Lachkauz, Sceloglaux Albifacies, † 1914. (Nicholas Bussmann)
- Lord-Howe-Inselrasse des Norfolkstars, Aplonis Fuscus Hullianus, † 1923. (Hartmut Andryczuk)
- Guadalupe-Caracara, Polyborus Lutosus, † 1900. (Khan)
- Riesenalk, Alca impennis, † 1844. (Kristbjörg Kjeld/Wolfgang Müller)
Séance Vocibus Avium (II)
In seinen Farbzeichnungen nähert sich Wolfgang Müller der Gestalt von elf ausgestorbenen Vögeln. Als Orientierung dienen ihm dabei ausgestopfte Bälge, historische Abbildungen und wissenschaftliche Beschreibungen über das Verhalten der Spezies. Zu jeder Spezies entstehen mehrere unterschiedliche und zugleich ähnliche Zeichnungen.
Wolfgang Müller erhält im Juli 2009 den vom Südwestrundfunk (SWR) gestifteten Karl-Sczuka-Preis für Hörspiel als Radiokunst. Er wird für sein Radiostück
„Séance Vocibus Avium“
ausgezeichnet, das als Produktion des Bayerischen Rundfunks am 3. August 2008 urgesendet wurde.
Aus der Begründung der Jury: „Wissenschaftliche Beschreibungen ausgestorbener Vogelarten und ihrer Stimmen nimmt der Künstler und Feldforscher Wolfgang Müller zum Ausgangspunkt seines Hörwerks ‚Séance vocibus avium’. Aus der aussterbenden Form eines Rundfunkvortrags entwickelt er eine zunächst nüchtern anmutende Textstruktur, um die Sätze dann auf spielerische Weise in Wortreihen und Bedeutungsfelder zu überführen. Damit wird die Aufmerksamkeit vom ursprünglichen Kontext der zoologischen Darstellung gelöst und auf poetische Klang- und Bedeutungsreize der einzelnen Vokabeln gelenkt. Vogelnamen, exotische Lebensräume und die verbalen Notationen von Lautäußerungen schaffen weite Imaginationsfelder in den elf Textpassagen, auf die jeweils eine betörende Rekonstruktion von verlorenen Vogelstimmen durch menschliche Interpreten folgt. ‚Séance vocibus avium’ bezaubert durch seine Lust am Erfinden von Wirklichkeiten.„